Weil wir hier leben

Alleinerziehend - Gefangen im Hamsterrad

Alleinerziehende wie die Paderbornerin Dunja Springer, haben es schwer, den Alltag zu bestreiten.
Es hapert vor allem am Geld.

Der Kleine (5) ist beim Bolzen umgeknickt und fordert die volle Aufmerksamkeit auf seinen Schmerz. Der Große (7) braucht einen neuen Füller. Jetzt sofort – die Schule fängt ja bald wieder an. Außerdem ist kein Eis mehr im Gefrierfach. Und ein cooles Geschenk für den Geburtstag von Kita-Kumpel Max muss auch noch her …

Gefangen im Hamsterrad.

Dunja Springer weiß mal wieder nicht, wo ihr der Kopf steht. Sie will weg. Einfach nur weg. „Manchmal wird mir alles zu viel und ich fühle mich wie im Hamsterrad: Allein gelassen und von der Gesellschaft abgehängt.“ In diesen schwachen Momenten frage sie sich schon mal: Und wer kümmert sich um mich? „Ich bin ja kein Roboter, sondern auch nur ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Aber die stehen bei klassisch Alleinerziehenden nun mal ganz hinten an“, so die 35-Jährige, die den Vater ihrer Kinder 2016 vor die Tür gesetzt hat, nachdem sein Doppelleben aufflog.
Derzeit besteht nur noch telefonischer Kontakt, für den Unterhalt könne der im Ausland lebende Ex-Partner selbst nicht aufkommen. „Seit der Trennung gibt es keinen Mann mehr in meinem Leben. Dafür bleibt einfach keine Zeit.“
Woran es neben Zeit für sich selbst oder einer Schulter zum Anlehnen hapert, ist Geld.
Zwar sei die schlimmste Zeit, als sich die Paderbornerin nach dem Beziehungs-Aus noch in Elternzeit befand, „und mit gesenktem Kopf zum Amt ging, und um Unterstützung zu bitten“ vorbei und abgehakt.
Dennoch geht es der staatlich geprüften Übersetzerin wie 63 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland: Sie haben einer vom Statistischen Bundesamt vorgestellten Studie nicht die Mittel, unerwartete Ausgaben in Höhe von 1.000 Euro zu bestreiten.
Zum Vergleich: Im Bevölkerungsdurchschnitt sind es nur 30 Prozent aller Haushalte.

Ein Drittel hat keine Arbeit.

Knapp ein Drittel der alleinerziehenden Mütter hat laut einer Studie keine Arbeit – mehr als die Hälfte würde aber gern arbeiten. Dunja Springer hat inzwischen einen Job, seit 2017 ist sie bei einer Exportfirma angestellt, der Vertrag läuft im Oktober aus.
Eine Verlängerung scheint ausgeschlossen, da ihre Arbeit mehr Auslandseinsätze fordert. Doch mit den Kindern sei das nicht machbar. „Irgendwie geht‘s immer weiter.“

Im Moment gehen die 1.400 Netto Gehalt plus Unterhaltsvorschuss von 300 Euro und Kindergeld für den Lebensunterhalt – Miete, Versicherungen, Hort- und Kita-Beitrag, Essensversorgung – fast komplett drauf. Was übrig bleibt, wird für den Urlaub gespart. „Einmal im Jahr, das muss sein“, sagt die Mutter.
Staatliche Unterstützung wie etwa Wohngeld oder Kinderzuschlag gebe es nicht, „weil ich mit meinem Nettogehalt knapp über der Einkommensgrenze liege“. Das Paradoxe an ihrer Situation: Würde sie nicht arbeiten, ginge es ihnen nicht viel schlechter. „Und ich würde ruhiger leben, statt krampfhaft zu versuchen, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen.“
Doch der Drang nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmung lässt sie weiterkämpfen: „Ich will das alleine packen. Mir wäre ja schon geholfen, wenn ich flexibler arbeiten könnte und wir Alleinerziehende von der Gesellschaft mehr Akzeptanz erhalten würden.“ 

Ja, ich gehe zur Tafel und ja, wir hätten gerne eine größere Wohnung

Monika: “Ja wir hätten gerne eine größere Wohnung”

Hallo, ich heiße Monika und bin 29 Jahre alt. Ich habe einen großen Sohn von bald zehn Jahren und einen kleinen Sohn, der jetzt sechs wird. 

Mein Mann Harald und ja wir wohnen auf circa 80 Quadratmeter, weil uns nicht mehr gegeben ist, und wir verzichten dafür auf unser Schlafzimmer, damit die Kinder ihr eigenes Reich einfach haben.
Wir brauchen die Tafel, weil einfach das Geld hinten und vorne nicht ausreichend ist. Mein Mann geht zwar arbeiten, ich nicht, und deswegen nutzen wir die Tafel.
Es ist viel Obst, Brot, aber auch Joghurt, Quark oder mal Milch. Mal gibt’s was zu trinken. Das ist ganz unterschiedlich und variiert.

Also drinnen, wenn man sich anstellt, gibt’s auch Kleidungsstücke, ja. Da kann man dann schauen. Heute habe ich mir ein paar Schuhe zum Beispiel mitgenommen.
Ich möchte gerne wieder arbeiten, ja, und ich hab‘ mir jetzt vorgenommen, der Kleine wird ja jetzt Ende des Jahres eingeschult, und da hab‘ ich ja ein bisschen mehr Kapazitäten, ein bisschen mehr Möglichkeiten, die Kinder in der KInderbetreuung auch anzumelden und dann möchte ich auch gerne wieder starten, weil das wird auch ein bisschen einseitig auf Dauer, nur Mama zu sein.

Ich bin ausgebildete Floristin, eigentlich, aber die suchen dann meistens für sechs bis sieben Stunden und nicht bloß für drei bis vier Stunden, was ich könnte. Mein Mann hat auch nur nen Minijob, und der verdient 450 Euro. Also ist auch nicht die Welt. Der ist bei Stratmann im Mülldienst. Er hat jetzt einmal schon aufgearbeitet. Die 450, die er jetzt verdient, das ist ne Aufstockung wieder. Vorher war es noch weniger. Ja es ist wirklich nicht viel. Man hat es, und schon ist es wieder für Lebensmittel oder für Kleidung oder mal ein Ausflug, der dann wirklich mal sein muss, schon wieder weg.

Das Schlimmste ist wirklich, dass man teilweise Ende des Monats gucken muss, was man sich und den Kindern zum Essen auf den Tisch stellt zum Großteil, aber auch, dass man bestimmte Wünsche nicht erfüllen kann. Und das tut einem doch schon im Herzen weh, wenn man immer wieder nein, nein und – ja – sagen muss. Der Kleine hat jetzt bald Geburtstag, und der wünscht sich zum Beispiel ein Fahrrad und halt ein bestimmtes, und das geht halt wieder nicht. Da muss man dann wieder auf ein gebrauchtes ausweichen.

Die Schulausgaben die werden ja zum Glück vom Jobcenter wirklich unterstützt, da bekomme ich 100 Euro im Schuljahr, aber jetzt, wie Sportzeug oder Schwimmsachen oder sowas muss ich halt oder wir selber bewerkstelligen.

Auf eine Seite bin ich zufrieden, dass ich überhaupt was habe, ja, weil es gibt ja wesentlich schlimmere noch, aber so richtig wohl fühlen tu ich mich in dieser Situation nicht. Entspannen ist ganz ganz schwierig. Also man hat eigentlich immer den Kopf voll, wie sieht der nächste Tag aus, was kommt nächste Woche. Man ist eigentlich immer schon am Planen und am Rechnen und am Schauen, wie man weiterkommt.

Wohnungsnot

Helga muss aus Ihrer Wohnung raus!

»Wohnungsnot gibt es auch in Paderborn. Die trifft vor allem Menschen, die sozial nicht gut gestellt sind – also die Schwächsten«, so Bernd Wroblewski

Aber auch alleinerziehende Mütter, Senioren, Studenten und Auszubildende brauchen bezahlbare kleine Wohnungen, ergänzt Susanne Volmari.

»Als Helga sich nach einer kleinen günstigen Sozialwohnung erkundigt hat, wurde ihr gesagt, da müsse sie in fünf Jahren wiederkommen!!

Also muss sie jetzt 100 Euro ihrer Grundsicherung für die Wohnung abzwacken.

Das geht gar nicht und ist leider kein Einzelfall.«

Bernds Südstadtplan sieht eine Tauschbörse für solche Fälle vor!

Ich bin Tobi der Paketzusteller

Hallo, ich heiße Tobias, bin 35. 

Wir als Paketzusteller quasi sind so wie es manchmal rüberkommt echt das letzte Licht, das ganz letzte, ganz unten. 

Jeder trampelt auf uns rum, die Vorarbeiter, klar, die müssen, die Chefs und dann die ganzen Kunden, die der Meinung sind, sie sind was Besseres wie wir. 

Also mich macht es total an, wenn die Kunden es als selbstverständlich ansehen, ich meine, dass 90 Prozent der Kunden, die wir haben, gar keine große Dankbarkeit zeigen, wobei ein Pizzabote immer irgendetwas kriegt. Das ist ein bisschen undankbar in dem Job. Aber nun ja, wir haben uns ihn ja selber ausgesucht Da müssen wir durch.

Mein Arbeitstag beginnt früh um sechs, ich stehe um halb vier auf, fahre um fünf los. Und dann geht es darum, dass wir 10 Uhr 30 Pakete pünktlich zustellen und 12 Uhr Pakete pünktlich zustellen. 

Das dürfen wir nicht versauen, was allerdings manchmal passiert. Je nachdem wie viel wir im Auto haben, desto länger brauchen wir und desto früher oder später ist unser Feierabend. 

Wenn allerdings – gerade zu Weihnachten oder jetzt in der Coronazeit gibt es allerdings auch Tage, wo wir so viele Kunden haben, dass wir auch zwölf Stunden arbeiten. 

Wenn wir so lange brauchen, brauchen wir so lange. Dann ist das so.

In der Regel war das schon so, dass wir Überstunden bezahlt bekommen haben. Das wurde jetzt aber aufgrund eines Festgehaltes jeden Monat abgeschafft. Wir haben jetzt quasi, wenn wir langsam arbeiten, für die Tätigkeit weniger Geld raus. Ich persönlich bin, was Arbeit betrifft, nicht so gemütlich. Ich mache mir selber richtig Druck, damit ich aber auch sehr viel Nachmittag für mich allein habe, also für mich zu Hause und Familie und so was alles, damit ich die tagsüber sehe.

Es ist wie jeder Job, es macht schon Spaß, ja. Es gibt natürlich auch so Kunden und Kundinnen, Geschäfte und privat, die dann total würg sind, sag ich jetzt mal, und die sich herausnehmen zu denken, dass wir den ihre Bringhanseln sind und alles zu tun haben, was sie wollen und so was. Ansonsten macht es schon Laune, ich bin für mich alleine, mir geht keiner auf den Sack hier draußen, kein Chef, kein Vorarbeiter, kein gar nichts. Wenn das Auto leer ist, ist es leer. Da kommt keine zusätzliche Arbeit oder sonst irgendetwas. Und dann ist das schick.

Ich habe kein Geld für dritte Zähne

Ich bin die Maria. Mit 55 habe ich durch eine Firmenpleite meine gut bezahlte Arbeit verloren. Seitdem bin ich trotz guter Qualifikation nicht wieder zu einer Arbeit kommen konnte.

Ich war vor fünf Jahren zuletzt im Kino, damals lief Spectre so ein James Bond.
Ich war vor fünf Jahren zuletzt weiter als vier Busstationen von meiner Wohnung entfernt, weil alles andere ist echt nicht mehr drin.

Und wenn dann die Gesundheit nicht mitmacht, ja, dann ist der Ofen eh ganz aus.
Abgesehen von einer sowieso  Dreiklassenmedizin, wo die untersten gar nicht mehr berücksichtigt werden, wenn Dir die Zähne ausfallen oder soetwas.

Es schmerzt mich am meisten, dass man, ich in meinem Alter keine Chance mehr sehe, jemals da wieder raus zu kommen!! schluchzt Sie.
Dass ich das wenige bisschen für immer mehr Medikamente, Schmerzmittel, was weiß ich, irgendwelche Krücken aufbringen muss und immer weniger teilhaben kann an allem.

Für mich gibt es keinen Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit. Ich habe viele Interessen. Durch das Lesen von Büchern kann ich mich sehr gut beschäftigen und tu das auch, also das ist aber ne persönliche Sache, ganz für mich alleine.
Ich bin kein Mensch, der sich gerne mit anderen zusammenschließt.
Aber natürlich würde ich auch gerne auch mal was Anderes machen. Ich würde gerne auch mal zum Friseur gehen und vielleicht auch ein bisschen mehr machen lassen als nur die unteren drei Zentimeter wieder abzuschnippeln für ‘n Zehner, sondern vielleicht auch mal ne Frisur zu haben.

Was soll die Politik für mich tun? Sie soll für die älteren Menschen, die älter werdenden Menschen eine bessere medizinische Versorgung sorgen. Es ist entwürdigend, dass ich im Obergebiss mit nur noch vier Zähnen rumlaufen kann. Da muss was Besseres her.

Aber das große Anliegen ist die Zukunft der Kinder. Ich bin außer meiner Situation auch noch alleinerziehend, und wenn einer mit 60 in diese Hartz IV Geschichte reingerät, dann ist das sicherlich eine Sache, wenn man schon viel im Leben erlebt hat, was Positives, auch Erfolg und so weiter, aber wenn einer bereits mit 23 aufgrund der Elternsituation da drinne sitzt und nicht sieht, dass er da jemals rauskommen kann oder wie er das tun soll, dann ist da halt ganz schlecht, dann sind das verpfuschte Leben.

Kinder und Corona

Milad packt die Wut
Manchmal will er nur noch schreien. „Scheiß-Corona!“ Milad wirft sich dann aufs Bett, schlägt in sein Kopfkissen. Bis die Wut vorbei ist. Die Verzweiflung darüber, dass er seit Mitte März seine Freunde kaum noch sehen durfte, allein zu Hause lernt, oft überfordert ist. Zwölf Wochen in dieser kleinen Sozialwohnung, drei Räume für vier Menschen.
Damit Milad sein eigenes Zimmer hat, schläft die fünfjährige Schwester bei den Eltern.
Auf dem „großen neuen Eckschreibtisch“, von dem Milad stolz erzählt, versucht er Ordnung zu halten. Sortiert all die Packen Papier, die die Lehrer in seinen Briefkasten warfen oder die er im Sekretariat abholen musste.
So viele Aufgaben! „Mehr als sonst“, findet Milad. Und die ganzen Abgabefristen, heute, morgen, übermorgen. Manchmal verliert er den Überblick.
An einer digitalen Pinnwand muss er sich jeden Tag bis zehn Uhr ein Lernziel setzen. Es kommt vor, dass die Lehrerin anruft und fragt: Was ist mit Milad, wo bleibt sein Tagesziel? Da liegt der Junge noch im Bett.
Milad ist zwölf Jahre alt und geht in die sechste Klasse einer städtischen Realschule.

Alles ist durcheinander,
die Welt da draußen und seine kleine Welt da drinnen. Er schläft jetzt viel am Tag und ist abends lange wach. Wenn die Familie spazieren geht oder Brettspiele spielt, schaut Milad lieber YouTube oder TikTok, daddelt an der Xbox. Zweimal in der Woche bekommt er das Handy der Mutter, damit kann er Fortnite spielen.
„Sagen wir es, wie es ist, beim Lernen hat kein Kind Spaß!“, sagt Milad und schaut ein bisschen frech durch seine Brille. „Wenn er will, kann er alles, aber wenn er nicht will, geht gar nichts“, sagt die Mutter. Sie muss ihn viel ermahnen und aufpassen, nicht zu fordernd zu sein. Sonst wird Milad aggressiv. Die beiden sitzen in einem kleinen Imbiss in der Innenstadt. Milads Vater Navid, der wie die Mutter Amira aus Afghanistan nach Deutschland kam, kocht hier Mittagessen. Erst seit Kurzem hat er seinen Laden wieder geöffnet, aber es läuft schlecht, noch immer sind viele potenzielle Gäste aus den Büros ringsum im Homeoffice. Der Imbiss kostet allein 1.800 Euro Miete pro Monat. Für die Familie bleibt kaum etwas übrig, obwohl die Mutter jeden Tag für ein paar Stunden bei Rossmann arbeitet. „Wir brauchen Unterstützung vom Amt“, sagt sie.
Wenn sie morgens kurz nach sieben aus dem Haus geht und auch der Vater wenig später in die Stadt fährt, sind die Kinder allein zu Hause. Milad lässt sich von seiner kleinen Schwester wecken, auch sie war seit Monaten nicht in der Kita. Bis die Mutter mittags zurück ist, malen oder spielen sie zusammen, schauen Fernsehen. Und manchmal geht Milad einkaufen für die Nachbarn.
Trotzdem bleiben viele Stunden, in denen es nichts zu tun gibt.

 „Diese Langeweile ist das Schlimmste“,
sagt Milad. Und dass er so viel verpasst. Am Boys’ Day wollte er in einen Kindergarten. Beim Judo hätte er seinen weiß-gelben Gürtel machen können, gestern wäre die Prüfung gewesen.

Immer auf der Suche nach dem Netz

Ihr Handy fest in der linken Hand, zieht Mary-Lou durch die Straßen ihres Viertels. Vorbei an einem Getränkemarkt, einem Nagellackstudio, einer Döner-Bude. Die 15-Jährige sucht eine Internetverbindung, irgendwo wird es schon einen offenen WLAN-Hotspot geben. Seit mehr als acht Wochen darf Mary-Lou nicht mehr zur Schule, ihr Gymnasium unterrichtet jetzt digital. Ein Problem für Mary-Lou, die zu Hause in der Zweizimmerwohnung im kein Internet hat. Inzwischen kennt sie die Plätze mit der besten Bandbreite: Vor Bäckereien, Hotels oder Büros hat sie fast immer Glück.
Fach für Fach kann sie sich dann die Aufgaben auf ihr Handy herunterladen.
An manchen Tagen steht sie eine Viertelstunde da und wartet, bei jedem Wetter.

Mary-Lou ist 14 Jahre alt und besucht die achte Klasse einer Gesamtschule.

Später, wenn sie oben im vierten Stock ihres grauen Wohnblocks in ihrem Zimmer sitzt, entziffert sie die Word-Dokumente der Lehrer auf dem kleinen Handybildschirm, nimmt sich einen Block und löst Mathe-Aufgaben, schreibt Deutsch-Aufsätze, alles handschriftlich. Danach tippt sie die Lösungen ins Smartphone, die Aufsätze fotografiert sie ab.
„Computer oder Drucker haben wir keinen“, sagt Mary-Lou, „aber es geht auch so.“

Sie weiß, dass die meisten Mitschüler bessere Voraussetzungen haben, aber Mary-Lou jammert nicht. Mit grauem Anorak und verschränkten Armen sitzt sie in der Frühlingssonne vor ihrem Wohnblock. Die Parkbank auf dem Spielplatz ist zugewachsen, von der Straße dröhnt es herüber. Dicht neben ihr sitzt Mary-Lous Mutter Annegret, die beiden haben in diesen Wochen nur noch sich.

Seit Mary-Lous Geburt ist Annegret alleinerziehend und lebt von Hartz IV. Trotzdem kratzt sie das Geld für die Notizblöcke zusammen, für den deutschen Roman “Löcher”und die Tintenkiller. „Wir kommen zurecht“, sagt sie, „aber wenn wir mal Medikamente oder neue Bettwäsche bräuchten, wäre das Geld knapp.“

Mary-Lou ist ehrgeizig, nach dem Abitur will sie Journalistin werden oder Medizin studieren. „Sie schmeißt sich voll ins Zeug“, sagt ihre Mutter, und Mary-Lou grinst verlegen. Deutsch ist ihr bestes Fach, dann kommen Englisch und Musik. 

Aber nicht an jedem Tag kann sie sich motivieren, die vielen E-Mails ihrer Lehrer abzuarbeiten. „Manchmal habe ich keine Lust, mich alleine hinzusetzen.“ Wenn sie auf dem Handy Volumenberechnungen und lineare Funktionen bearbeiten muss, verschwimmt alles vor ihren Augen, nichts ergibt Sinn. Die Mutter macht sich Sorgen, dass Mary-Lous Defizite in Mathe so groß werden, dass sie nicht in die neunte Klasse versetzt wird. Schließlich muss sie den Stoff ohne die Hilfe eines Lehrers verstehen. Wenn sich andere Schüler in Videokonferenzen treffen, ist Mary-Lou nicht dabei. Dafür bräuchte sie einen Laptop oder zumindest stabiles Internet.

Mary-Lous einziges Tor zur Welt ist ihr iPhone 7, eine Spende der Evangelischen Jugendhilfe. Von dort bekam die Familie bis vor Kurzem auch einen Erziehungsbeistand zur Seite gestellt. Mary-Lou erzählt viel von ihrem Alltag vor Corona. Vom Chor, dem Fußballtraining und ihrer besten Freundin Jenny, die sie nur ein einziges Mal gesehen hat, seitdem die Schule zu ist. In wenigen Tagen darf Mary-Lou zum ersten Mal wieder in den Unterricht. Sie sieht froh aus, wenn sie daran denkt, morgens aus dem Haus zu gehen und in den Bus zur Gesamtschule zu steigen. „Ich wünsche mir so, dass alles wieder normal wird“, sagt sie. Und sie will, dass ihr endlich jemand sagt, wie lange es bis dahin noch dauert.

Faire Bezahlung in der Pflege

Hallo ich bin Aniela Kowalczyk bin 27 Jahre alt und arbeite als Wohnbereichsleiterin in einem Paderborner Altenheim. In dieser Corona Krise müssen wir den Bewohnern viel Zuwendung schenken. Auch den Mitarbeitern. Es besteht immer viel Redebedarf.

Die größte Herausforderung ist, die Schutzmaßnahmen einzuhalten. Ich arbeite ja auch im Demenzbereich. Die Bewohner erkennen uns oft nicht mit Masken. Da kommt dann: Wer sind Sie? Von Ihnen lasse ich mich jetzt nicht versorgen.

Normalerweise umarmt man die Bewohner. Die wollen das auch. Die weinen mal und suchen Nähe. Da ist diese enge Beziehung wichtig, aber sehr schwierig. Dann muss man die Maske kurz runtermachen und von weiter weg sprechen, damit sie unseren Mund sehen und uns verstehen.

Manche verstehen die Situation auch, sind aber dennoch verwirrt, weil ja auch die Angehörigen nicht kommen können. Und das fehlt wirklich.

Das finde ich sehr traurig. Man möchte den Bewohnern ja auch was Gutes tun. Das ist schwierig – auch für mich.

Überrascht hat mich, dass die Mitarbeiter alle an einem Strang ziehen. Oft gibt es ja unterschiedliche Meinungen in Teams, aber jetzt halten alle zusammen.

Wir sind schon in einer gefährlichen Branche. Wir sind mehr dem Virus ausgesetzt als Menschen, die zu Hause bleiben können. Ich fühl mich schon sehr als Alltagsheld. Vor Corona hatte unser Beruf ja nicht so ein tolles Bild in der Gesellschaft

Zum Teil hat die Wertschätzung zugenommen, auch in den sozialen Medien. Oder man liest ‘Danke ihr Pflegekräfte‘. Es wird auch oft gefragt: Wie geht es dir? Kriegt ihr das denn hin? Wir würden gerne helfen. Das höre ich öfter. Ich fühl mich da schon in einer guten Position.

Von der Politik wünsche ich mir eine gerechte Bezahlung. Das ist ja schon lange ein Thema. Das ist ja ein Beruf mit Arbeit an Wochenende und Feiertagen. Ich wünsche mir noch mehr Anerkennung in der Gesellschaft. Wir brauchen auch mehr Pflegekräfte. In einigen Jahren wird es vermutlich mehr ältere Menschen geben als jüngere. Der Beruf wird gebraucht.

Alltagsrassismus

Hallo, mein Name ist Defne Yilmaz. 

Ich bin 33 Jahre alt und lebe in der Paderborner Südstadt. Ich habe zwei Kinder und bin Sozialarbeiterin. Arbeite im Kontext der Kirche, nehme aber derzeit Elternurlaub. 

Was mich nervt und was mir wirklich Sorgen macht? 

Nun ich muss das mal einfach loswerden: ich sehe nicht aus wie die deutsche weiße Mehrheitsgesellschaft und bin aber dennoch Deutsche. Aber die Leute fragen mich immer wieder, woher ich komme? Wenn ich antworte von Paderborn dann wird das nicht akzeptiert, weil ich nicht wie eine typische Paderborn-Frau aussah.

Wie gesagt: Deutsch ist meine einzige Muttersprache. Mein Vater kommt ursprünglich aus Türkei. Das wird dann auch hinterfragt, ob ich denn auch muslimisch aufgewachsen bin etc. Wenn ich das dann verneine, wird dann gefragt, warum – und… 

Was man bei blonden weißen Frauen vermutlich nicht tun würde, weil man damit Grenzen überschreitet – und das nervt total!

Ich denke, in den letzten Jahren hat der Alltagsrassismus hier in Deutschland zugenommen. Und ich würde das einen positiven Rassismus nennen. Denn es ist erstmal von den Leuten ja nicht böse gemeint. Die Leute meinen, sie seien positiv und nett interessiert. Aber was sie eigentlich tun, ist, dass sie jemanden ausgrenzen und sagen: Du gehörst nicht dazu, dann erzähl doch mal deine ganze Geschichte.

Zum Beispiel sitze ich in der Krabbelgruppe und – meine Tochter, die hatte von Geburt an schon sehr viele Haare – und eine Mutter staunt über die Haarpracht meines Kindes und die andere Mutter erwidert: „Na ja, das liegt aber nur daran, dass dein Kind nicht urdeutsch ist.“ Daraufhin frag‘ ich, was sie mit ‚urdeutsch‘ denn genau meint? Na ja, sie meint, so ‚echt deutsch‘, sie ist ja nicht richtig ‚urdeutsch‘. –
Das sind Sachen, wo ich denke, da wird ein Säugling schon ausgegrenzt und mit dem Konstrukt eines rassistischen Denkens konfrontiert, ohne sich wehren zu können. Das macht mir Angst.

Ich denke, dass sich unsere Gesellschaft sensibilisieren muss in Hinsicht auf Alltagsrassismus. Ja, und dass man erstmal selber auch erkennen muss, dass Dinge, die ich gut meine, nicht unbedingt gut sind! 

Die Menschen müssen auch sehen und akzeptieren, dass Menschen, die nicht der mehrheitlich weißen deutschen Gesellschaft zu gehören, dennoch auch deutsch sein können. Und zwar nicht weniger deutsch, als blonde Menschen deutsch sind.